Politiker*innen sind keine normalen Menschen

Grünen-Bundestagsabgeordneter Matthias Gastel hat sein wöchentliches Arbeitspensum auf Threads gepostet. Ich finde, das macht sehr deutlich, warum Politiker*innen manchmal so realitätsfremd wirken.

Matthias Gastel und ein Exploding-Head Emoji vor dem Hintergrund der von ihm geposteten Übersicht einer Sitzungswoche im Bundestag.

Die kurze Antwort für den Aufmacher: Weil sie es nämlich auch sind.

Ich muss zugeben, ich kannte Matthias Gastel vor diesem Post nicht. Denn während es einem auf anderen Plattformen manchmal so vorkommt, als wären die Accounts, denen man folgt, bestenfalls eine Empfehlung an den Algorithmus, ist das auf Threads wirklich so. Anderes Thema, aber so habe ich zumindest diesen Post gefunden, den ich wirklich äußerst spannend fand.

Gastel ist seit 2013 Bundestagsabgeordneter für die Grünen, sein Schwerpunkt ist Verkehrspolitik. Außerdem sitzt er im Tourismusausschuss des Bundestages und engagierte sich als gebürtiger Stuttgarter seinerzeit auch gegen Stuttgart 21. Laut Abgeordnetenwatch wird er außerdem gelegentlich für eine Tätigkeit als Aufsichtsratsmitglied der DB InfraGo AG entlohnt. Inwieweit das einen Einfluss auf seine politischen Tätigkeiten hat, kann ich an dieser Stelle nicht beurteilen und das ist hier, ebenso wie weitere Einzelheiten über seine Person, auch nur wenig relevant.


Viel mehr geht es um einen Post, den er heute (wohlgemerkt an einem Sonntag) auf Threads veröffentlicht hat. In diesem hat ein Praktikant für ihn eine Grafik erstellt, die einen vermeintlich typischen Wochenablauf für ihn und seine Arbeit als Bundestagsabgeordneter und Mitglied in mehreren Ausschüssen zeigt. Ich finde diesen Post überaus einsichtsreich, denn er zeigt bildlich auf, wie stark die politische Arbeit das Leben von Politiker*innen einnimmt.

Wenn wir diesen Beitrag für bare Münze nehmen, ergibt sich daraus nämlich aus Arbeitnehmer*innen-Sicht ein erschreckendes Bild. Die Tabelle beginnt um sechs Uhr morgens, wobei man hier davon ausgehen kann, dass es sich um die Morgenroutine handelt: Aufstehen, Kaffee trinken, Nachrichten lesen, ein paar Mails lesen. Soweit dürften das die meisten Arbeitnehmer*innen (zumindest diejenigen, die E-Mail-Jobs haben) kennen. Zwischen 7:00 Uhr und 9:30 Uhr geht dann der richtige Arbeitstag los, mit diversen Gesprächen, hauptsächlich zum Thema Verkehrspolitik. Alles spannende Arbeit und mit Sicherheit auch zu einem gewissen Grad erfüllend, wenn man kurz vergisst, was für eine Nase aktuell das Verkehrsministerium führt und was für retrofuturistische und gleichzeitig verschwenderische Sci-Fi-Projekte dort teilweise angegangen werden.

Erste Risse tun sich aber schon dann auf, wenn man in der Tabelle etwas weiter nach unten schaut: Der Montag endet mit einem Reformer*innentreffen, das bis 21 Uhr geht. anschließend noch etwas »Büroarbeit« bis 22 Uhr, die hier als “Mails abarbeiten, Dokumente lesen, teils im Homeoffice” beschrieben wird. Der Begriff Homeoffice ist hier wahrscheinlich als ein netter Euphemismus für “Arbeiten bis zum Einschlafen” zu sehen. Gehen wir davon aus, dass der Arbeitstag tatsächlich mit dem ersten Programmpunkt um 9:30 startet und wenn wir die abendliche Arbeit im Homeoffice nicht als Arbeitszeit zählen, haben wir abzüglich der einstündigen Mittagspause hier einen 10-Stunden-Tag vor uns. Zur Erinnerung für diejenigen, die nicht ganz fit mit Gesetzen sind hier ein kurzer Auszug aus § 3 des Arbeitszeitgesetzes:

Die werktägliche Arbeitszeit der Arbeitnehmer darf acht Stunden nicht überschreiten. Sie kann auf bis zu zehn Stunden nur verlängert werden, wenn innerhalb von sechs Kalendermonaten oder innerhalb von 24 Wochen im Durchschnitt acht Stunden werktäglich nicht überschritten werden.

In Ausnahmefällen wäre so ein Tag also erlaubt. Mit einem Blick auf den Rest der Tabelle ist dieser Tag allerdings noch einer der entspannteren; er startet am spätesten und enthält tatsächlich eine Mittagspause. Die findet sich in der siebentägigen Übersicht sonst nur noch donnerstags. Auch das ein Verstoß gegen das ArbZG, welches nach § 4 eine Ruhepause von mindestens 45 Minuten bei über neun Stunden Arbeit vorsieht. Von Dienstag auf Mittwoch wird außerdem gegen § 5 verstoßen, welche eine ununterbrochene Ruhezeit von mindestens elf Stunden zwischen Arbeitsschichten vorschreibt. Zwischen der Veranstaltung der Allianz Pro Schiene bis 21 Uhr und dem Gespräch im Bundesverkehrsministerium um 7 Uhr am nächsten Tag liegen aber gerade mal zehn Stunden.


Mir geht es mit diesem Beitrag allerdings nicht darum, eine Anklage für das MdB Matthias Gastel fertigzumachen, sondern viel mehr darum aufzuzeigen, dass ein solches Pensum massiv überzogen ist und was es für Auswirkungen auf die Politiker*innen als Menschen hat, die ja immerhin gewählte Vertreter*innen des Volkes sind und entsprechend auch zu ihrem Aufgabenfeld gehört, dessen Interessen zu vertreten und dabei auch die Perspektive der von ihnen repräsentierten Menschen einnehmen zu können. Das fällt natürlich schwer, wenn einem dabei abverlangt wird, so viel mehr zu leisten als die meisten Arbeitnehmer*innen, als die meisten anderen Menschen. Denn auch wenn Bundespolitik erstmal keine harte körperliche Arbeit ist, ist ein solches Pensum immens anstrengend und entfremdet einen schnell von allem, was nicht zum direkten Arbeitsumfeld gehört.

Auf einem privaten Level erklärt das zumindest schon mal den etwas befremdlichen Post, den Ricarda Lang zum Rücktritt von Kevin Kühnert von seinen Parteipositionen auf Twitter (und auch auf Threads) absetzte. Die Formulierung lässt beinahe vermuten, er sei gestorben.

Puh. Kevin Kühnert ist einer der klügsten und schlagfertigsten Politiker, die ich kennen lernen durfte. Und er zeigt gerade auch in dieser Situation, dass es ihm um die Sache geht und nicht um sich selbst. Er wird fehlen, als Politiker – und mir persönlich auch als Freund ❤️

Ricarda Lang (@RicardaLang), 7. Oktober 2024

Für jemanden, der derart stark in die Politik eingebunden ist, muss es auch tatsächlich so wirken. Denn ein privater Kontakt, vielleicht sogar mal ein Feierabendbier oder ähnliche Sperenzchen werden durch so einen straffen Terminplan vollkommen unmöglich gemacht. Wir erwarten also von unseren Politiker*innen, dass sie uns als Menschen repräsentieren während sie gleichzeitig eine unmenschliche Menge an Arbeit leisten sollen. Dabei wäre der private Kontakt zu “normalen” Menschen für Politiker*innen umso wichtiger, um auch mal eine etwas differenziertere Sichtweise auf ihre Arbeit zu erhalten als das Feedback, das sie auf Veranstaltungen, online und über ihr Abgeordnetenbüro in ihrer Rolle als Abgeordnete erhalten.

Ein beliebtes Genre besonders realitätsfremder Online-Posts von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens lässt sich dadurch auch erklären: Die Taxifahrer-Konversationen. Gerade rechte Arschlöcher wie Julian Reichelt und Ulf Poschardt, aber auch einige Politiker*innen, breit über das politische Spektrum gestreut, lassen sich regelmäßig dazu hinreißen, online über für sie spannende Konversationen mit Taxifahrer*innen zu philosophieren. Was denn auch sonst? Es gibt ja außerhalb von Taxifahrten eigentlich keinen Zeitpunkt in ihrem Alltag, in dem sie nicht ausschließlich in ihrer Rolle als öffentliche Persönlichkeiten auftreten.

Auf einem beruflichen und politischen Level kann dieser enge Dienstplan allerdings auch Sorgenfalten bereiten. Denn es mag zwar einige Abgeordnete geben, die ihren Dienst nicht ganz so ernst nehmen (ich meine damit speziell auch Markus Söder), aber am Ende sind doch genau diese Menschen auch dafür verantwortlich, Arbeitspolitik für die Menschen zu machen, für die sie verantwortlich sind. Wer also nun regelmäßig einen 10-Stunden-Tag (oder mehr) hat und seine Wochenenden mit Arbeitsreisen verbringt, der verliert dabei auch leicht die Perspektive für jene, die eine 40-Stunden-Woche als Vollbeschäftigung ansehen – und kommt entsprechend eher auf die weltfremde Idee, Arbeitnehmer*innen zu mehr Überstunden motivieren zu wollen. Schließlich ist das für jemanden, der ausschließlich für seine Arbeit lebt, deutlich realitätsnäher als der Wunsch vieler insbesondere jüngerer Arbeitnehmer*innen nach 4-Tage-Wochen mit 30 Arbeitsstunden. Nicht wahr, Herr Lindner?

Auch komplett menschenfeindliche Ausfälle wie die des Arbeitsministers Hubertus Heil, der mittlerweile in leider gewohnter Regelmäßigkeit gegen Bürgergeldempfänger*innen schimpft werden dadurch nochmal etwas rekontextualisiert. Schließlich arbeitet man als Abgeordnete*r gute 60-80 Stunden pro Woche, sieben Tage die Woche. Warum kriegen das die faulen Dummköpfe ohne Arbeit nicht auch hin? Die Lebensrealität irgendwelcher Vorstände und Management-Anzüge ist für Bundestagsabgeordnete so greifbarer als die normaler Menschen.


All das ist keine erschöpfende Erklärung für die menschenfeindliche Politik der Ampel gegenüber armen Menschen. Es ist auch keine Entschuldigung für die Änderung des Kurses innerhalb der Bundesregierung hin zu einer konservativen bis protofaschistischen Politik. Dafür gibt es andere Triebfaktoren. Ich fand diesen kleinen Einblick allerdings überaus spannend, weil er exemplarisch aufzeigt, dass gerade diejenigen, die sich in der Regierung um gute Politik bemühen einem Arbeitspensum ausgesetzt sind, dass sie von einer menschlichen Erfahrung extrem entfremdet. Die Erfahrung normaler Menschen in einem normalen Arbeitsverhältnis ist für sie so genauso fremd, wie die Politik in Berlin und in den Landtagen oftmals für Bürger*innen erscheint.

Das soll auch kein Angriff auf Matthias Gastel sein, der sicherlich mit Leidenschaft bei der Sache ist. Der Fehler liegt hier nicht bei ihm oder seinem Büro, die lediglich das machen, was ihnen vom politischen Betrieb abverlangt wird. Es zeigt allerdings ein fundamentales Problem an der Politik auf, das in dieser Form wohl ewig zu einem Riss zwischen Politiker*innen und der Bevölkerung führen wird – denn wenn wir Politiker*innen nicht zugestehen, außerhalb ihres Berufs auch Menschen zu sein, dann können sie auch keine Politik für Menschen machen.


Anderswo im Fediverse als @dxciBel@fruef.social

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