Hanau.
Heute ist der 19.02.2023. In dieser Nacht vor drei Jahren verübte Tobias R. einen rassistischen Anschlag in Hanau.
Nur, um das gleich vorneweg klarzustellen: Meine Perspektive hier ist nicht die relevante. Die Hinterbliebenen werden nicht müde, ihre Geschichte zu erzählen und es lohnt sich mit Sicherheit eher, ihnen zuzuhören. So schrecklich wie dieser Anschlag war – sie waren näher dran. Sind es immer noch. Denn der Vater des Täters wohnt immer noch in Sichtweite von Hinterbliebenen und wird nicht müde, diese und ihre Kinder zu belästigen.
Dennoch hat Hanau bei mir einen Schmerz hinterlassen, der nicht einfach zu heilen ist. Hanau, als Stadt, bedeutet mir etwas. Seit ich klein bin war Hanau der Ort, wo ich mit meinen Eltern hingefahren bin, wenn ich mal neue Klamotten brauchte. Oder wenn es um den Weihnachtseinkauf ging. Oder auch manchmal einfach nur zum Bummeln. Noch mehr: Als mein Vater Krebs hatte, wurde er in Hanau im Krankenhaus behandelt. Während ich meinen Führerschein machte, fuhr ich mit meinem Fahrlehrer durch die Straßen von Hanau. Wenn ich mit meinen Freund*innen Lasertag spielen wollte, trafen wir uns in Hanau. Mein Bruder machte dort sein Abitur, meine Mutter unterichtete bis zur ihrer Pension an einer Hanauer Schule. Ein Freund feierte seine Geburtstagsfeiern immer am örtlichen Bärensee, wo seine Eltern einen Stellplatz hatten.
All das sind, und das wird mir während dem Schreiben immer deutlicher bewusst, Perspektiven auf eine Stadt, wie sie die Opfer des Anschlags sicherlich nicht unbedingt hatten. Während Hanau für mich, Kind des Bildungsbürgertums, eine Bezugsstadt war, war es für sie Lebensmittelpunkt. Und auch der Angriff selbst richtete sich nicht gegen mich, und auch nicht gegen Leute wie mich. Weiß, Mittelschicht (als es die noch gab), suburban. Dennoch fühle ich mich angegriffen. Denn die Opfer des Anschlags:
- Hamza Kurtović,
- Mercedes Kierpacz,
- Vili Viorel Păun,
- Ferhat Unvar,
- Said Nesar Hashemi,
- Gökhan Gültekin,
- Sedat Gürbüz,
- Fatih Saraçoğlu und
- Kaloyan Velkov
sind, wie in der Vergangenheit bereits oft betont wurde, keine Fremden gewesen. Der Angriff auf sie und das konsequent fahrlässige Handeln der Polizei während und nach dem Anschlag ist ein Angriff auf uns alle.
Wo wart ihr in Hanau?
In der Tatnacht war ich gerade im ersten Semester meines Studiums. Es war Prüfüungsphase und, Organisationstalent wie ich bin, hatte ich am darauffolgenden Tag eine Klausur und quasi noch nicht dafür gelernt. Also entschied ich mich, die Nacht durchzumachen und noch möglichst viel in meinen Kopf reinzuklatschen. Das vorweg: Die Prüfung habe ich bestanden. Allerdings saß ich dann auch in der Tatnacht in meiner Wohnung in Offenbach und konnte mehr oder weniger live dabei zuschauen, wie sich der Anschlag medial entfaltete. Erst hieß es nur “Hubschrauber über Kesselstadt”, und dass es Schüsse gegeben habe. Aber je tiefer in die Nacht es ging, desto mehr Details wurden bekannt, bis ich am Morgen wusste: Ein rechtsextremer Täter hat in Hanau mehrere Menschen ermordet. In meinem Hanau. Direkt nebenan quasi – wenn ich gewollt hätte, hätten mich nur 15 Minuten Bahnfahrt vom Hanauer Hauptbahnhof getrennt.
Der Rest des Tages fühlte sich unheimlich surreal an. Sicherlich auch wegen des Schlafmangels, aber wie soll man denn auch eine Prüfung schreiben, wenn man weiß, dass im Nachbarort in der Nacht neun Leute gestorben sind? Wie soll man zu Normalität finden, wenn direkt nebenan eben gerade noch eines der schlimmsten rechtsextremenen Attentate der deutschen Geschichte verübt wurde? Noch heute weiß ich nicht, wie ich damit umgehen soll. Wie ich damit umgehen soll, wenn eine Schweigeminute am Heumarkt-Tatort nur wenige Meter von dem Ort entfernt ist, an dem ich als Kind meine Hosen gekauft habe. Wenn der Demozug an dem Kino vorbeigeht, in dem ich mit meiner ersten Freundin den Medicus geschaut habe und an der Kreuzung in der ich in einer meiner ersten Fahrstunden mal abgewürgt habe. Es fühlt sich alles so unheimlich nahe und viel zu real an. Auch drei Jahre später noch.
Es bleibt die Indifferenz
Schockiert hat mich damals die fehlende Anteilnahme einiger Menschen in meinem Umfeld. Leute, von denen ich wusste, dass sie mindestens genauso einen Bezug zu Hanau hatten wie ich, wenn nicht mehr. Ich konnte mir nicht vorstellen, nicht mit jedem, der mir über den Weg lief über diesen Anschlag zu reden. Zu tief war die Wunde, zu viel musste hier verarbeitet werden. Doch an vielen Menschen prallte es einfach ab. Ein Gesprächsfaden, der von mir eingeleitet wurde und dann abrupt mit einem Schulterzucken endete, sobald ich nicht mehr vor Frust nicht den Rand halten konnte. Auch heute noch ist das so. Drei Jahre später blicke ich auf diesen Anschlag mit keinem bisschen weniger Anteilnahme und Schmerz, der 19. Februar ist für mich ein schwarzer Tag.
An der ersten Gedenkveranstaltung in Hanau nach dem Anschlag war in Hanau Karneval. Am Imbiss nahe dem Hauptbahnhof tönte Karnevalsmusik aus den Lautsprechern. Auch heute sah ich wieder Leute, die Karneval feierten. Damals wie heute verstehe ich es nicht. Aber Büşra Delikaya versteht es:
Hanau steht für ein schweres Trauma. Jedenfalls in dem Deutschland jener Menschen, die aussehen und heißen wie Sedat, Said Nesar, Mercedes, Hamza, Gökhan, Kaloyan, Ferhat, Vili Viorel und Fatih. Hanau, das ist großer Schmerz – und eine Erinnerung. Daran, dass wir nicht alle im selben Deutschland leben. Nach dem Anschlag rief man in dem einem Deutschland inoffiziell Staatstrauer aus. In dem anderen feierte man Karneval.
In all dem Weltschmerz, den ich persönlich aufgrund des generellen Zustands der Welt empfinde, agiert Hanau in diesem Moment als ein Katalyst. Nichts würde ich lieber machen, als mir dieses unglaubliche Leid aus der Seele zu schreien und dann keinen Stein auf dem anderen zu lassen, bis die Welt nicht zumindest so viel besser geworden ist, dass bis zu den Zähnen bewaffnete Nazis nicht manchmal einfach wahllos Menschen mit Migrationshintergrund erschießen. Es klingt so, als sollte das wirklich das Mindestmaß sein, von dem wir als Gesellschaft sprechen. Doch wenn ich in meinem Bekanntenkreis davon rede, dass sich bald wieder der 19. Februar jährt, dann blicke ich in leicht betroffene, aber hauptsächlich leere Gesichter. “Oh,” heißt es dann, “ja hm.”
Ja. Hm. Ich habe es nicht vergessen. Ich kann es nicht vergessen. Ich kann auch die instutionellen, institutionalisierten Fehler dieser Nacht nicht vergessen, ebenso wenig vergeben. All die Umstände die dazu führten, dass die Nacht des 19. Februar 2020 so geschah, wie sie es tat. Rassismus, Polizeiversagen, Rechtsextremismus, politische Indifferenz. Es gibt kein Vergeben. Es gibt kein Vergessen.
Es gibt nur den Wunsch nach Heilung.
Anderswo im Fediverse als @dxciBel@fruef.social
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