Was wir nicht sehen

Es gibt vieles, was ich am Fediverse auszusetzen habe. Eine Praxis hat sich dort allerdings etabliert wie nirgends sonst: Bildbeschreibungen.

HTML-Code für die Einbindung eines Bildes, aufgesplittet in drei Teile. Neben dem HTML-Tag gibt es den Namen der Bilddatei sowie die Bildbeschreibung im Alt-Text

Bildquelle

Heute hatte ich auf meiner Timeline einen Post von @AltTextHealthCheck@mastodon.social. Ein Account, der Posts mit Bildern im Fediverse analysiert und Statistiken dazu veröffentlicht, wie viele davon Bildbeschreibungen haben. Was ich sah, freute mich sehr, denn die Prozentanteile der Posts mit Bildbeschreibungen war in diesem Leaderboard wirklich überraschend hoch:

Führend sind hier chaos.social und tech.lgbt, wo jeweils 82%(!) der geposteten Bilder eine Beschreibung haben. Auch auf der größten Instanz, mastodon.social, sind es immerhin 23% der geposteten Bilder. Das ist enorm, und vor allem im Vergleich zu profitorientierten sozialen Medien ein Riesenunterschied. Für die habe ich keine Statistiken, allerdings kann ich die Anzahl der Bilder mit Bildbeschreibungen, die mir täglich auf Twitter oder Threads begegnen meist an einem Finger abzählen – zumindest, wenn es nicht gerade trendet, die Bildbeschreibungen für Pointen zu missbrauchen. Eine kurze Suche ergibt in die Richtung auch nichts, falls ihr also dazu irgendwelche Zahlen habt, lasst es mich gerne wissen!

Beeindruckend finde ich hier übrigens auch, wie hoch die Quote auf mastodon.art ist. Eine Instanz, die sich gezielt an Künstler*innen richtet und noch dazu eine der größten im gesamten Fediverse. Man sollte meinen, dass es für Künstler*innen schwerer ist, adäquate Bildbeschreibungen zu machen. Schließlich soll Kunst ja nicht nur rein visuelle Informationen transportieren, sondern dem Betrachter auch ein gewisses Gefühl, einen Vibe vermitteln. Nichtsdestotrotz nehmen sich immerhin 78% der Nutzer*innen dort die Zeit, Bildbeschreibungen zu formulieren. Chapeau!

Warum Bildbeschreibungen?

Für die Uninitiierten möchte ich einmal ganz kurz erklären, worum es hier überhaupt geht und warum diese hohe Quote so ein Erfolg ist.

Bildbeschreibungen sind erst einmal ein Werkzeug der Barrierefreiheit für blinde und sehbehinderte Menschen. Denn die können mit Bildern ohne Beschreibungen in den sozialen Medien erstmal überhaupt nichts anfangen. Sehen können sie sie ja schließlich nicht, oder nur schlecht. Allein das sollte in sich schon genug Motivation sein, um Bildbeschreibungen zu machen. Insbesondere wenn man betrachtet, wie viel wir Bilder auch für Dinge nutzen, die eigentlich gar nicht unbedingt ein Bild sein müssten (Screenshots von Text, Zitatplatten, Flyer für Veranstaltungen) und dann die darin enthaltene Information nirgendwo anders zugänglich machen.

Doch auch Menschen, die nicht sehbehindert sind, profitieren besonders in zwei sehr konkreten Szenarien von Bildbeschreibungen: Bei schlechter mobiler Datenverbindung (kennt man in Deutschland ja allzu gut) und wenn das Bild Informationen enthält, die Betrachter*innen vielleicht nicht ohne Hintergrundwissen verstehen können. Das kann von obskuren Witzen über Nischengebiete bis hin zu Wissen über popkulturelle Persönlichkeiten reichen. Wenn zum Beispiel auf Stan-Twitter die Frage rumgeht, wer das beste Hip Hop-Album der letzten Jahre geschrieben hat und eine Person ein Foto des*der Künstler*in postet, weiß ich vielleicht nicht unbedingt sofort, wer das ist.

Entsprechend sind Bildbeschreibungen in meinen Augen ein wichtiger Teil, um Menschen Teilhabe an sozialen Medien und den dort stattfindenden Konversationen zu bieten. Besonders wichtig in meinen Augen bei Accounts von staatlichen Institutionen und Unternehmen, die eine hohe Reichweite haben, aber auch im Privaten eine kleine Leistung, die vielen Menschen hilft. Der DBSV hat eine gute Anleitung, wie man Bildbeschreibungen schreibt, und verlinkt weiter zu Hilfeseiten wo erklärt wird, wie man sie technisch auf den gängigen Plattformen einpflegt.

Der Teil, wo ich spekuliere, warum das so ist

Mastodon, bzw. das Fediverse hat nun also im Gegensatz zu profitorientierten Plattformen eine Kultur entwickelt, in der Bildbeschreibungen zwar nicht omnipräsent, aber zumindest normalisiert sind. Das ist natürlich erstmal sehr schön zu sehen, aber neugierige Seelen wie ich fragen sich dann natürlich direkt, woher das kommt.

Ein Erklärungsansatz ist die grundsätzliche Kultur des Fediverse, wo Posts auch durchaus mal etwas ausschweifender werden können und die persönliche Verbindung zwischen Menschen zumindest nach außen hin als eines der wichtigsten Elemente des Netzwerks beschrieben wird.

Gerade vor dem großen Influx an User*innen vor Musks Twitter-Übernahme im November 2022 war das Fediverse ein Ort, den „Verstoßene“ aller Art ihr Heim nannten. Das betrifft einerseits die 4Chan-nahen Teile des Fediverse, deren Hassrede so extrem ist, dass sie auf kommerziellen Plattformen keine Chance haben. Aber auch (oftmals weiße) queere Menschen, neurodivergente Menschen, politische Dissident*innen und Leute, die Konversationen in Mailinglisten von Linux-Distributionen führen, fühlen sich in den herkömmlichen Medien nicht unbedingt zuhause bzw. werden mitunter auch von dort vertrieben.

Die Kombination aus queeren, neurodivergenten und technikaffinen Menschen –an vielen Stellen treffen alle drei Adjektive zu – machte das Fediverse zu einem fruchtbaren Boden für eine Kultur, die sensibel für den verbreiteten Ableismus auf anderen Plattformen ist und sich dem bewusst entgegenstellt. Ähnlich dazu ist auch eine verbreitete Nutzung von Contentwarnungen, um auf belastende Inhalte in den eigenen Posts hinzuweisen. Dass das auch Schattenseiten hat möchte ich nicht verschweigen, ist allerdings eine Diskussion, die an anderer Stelle geführt werden sollte. Dass viele Menschen das eher seltsam finden und insbesondere mit belehrenden Posts hierzu nicht gut klarkommen, konnte man sehr gut in besagtem November 2022 beobachten, als viele neue User*innen auf die bestehende Kultur stießen und ein guter Teil sich relativ schnell wieder abwandte. Das war einerseits durch die technischen Bedingungen der Plattform bedingt, aber jede*r, der schon einmal mit einem Hans aus Stuttgart über Linux diskutieren durfte weiß, wie anstrengend das allgemeine Überlegenheitsverständnis von Open Source- und eben auch Fediverse-Anhänger*innen auch sein kann.

Nichtsdestotrotz kann man finde ich eine Verbindung von dieser Engstirnigkeit zu der Prävalenz von Bildbeschreibungen im Fediverse aufstellen. Denn zu der Kultur, in der Bildbeschreibungen derart normalisiert sind, gehört auch die wiederholte und oft recht scharf formulierte Aufforderung vieler User*innen, Beschreibungen zu machen. Unzählige Male habe ich bereits Posts in der Art von “Wenn ihr keine Bildbeschreibungen macht, interagiere ich mit euren Posts nicht!” gesehen, einen gewissen Effekt wird das sicher gehabt haben.

Ein weiterer Aspekt dürfte das Endgerät sein, mit dem viele Leute auf das Fediverse zugreifen. Denn anders als viele Nutzer*innen in den herkömmlichen sozialen Medien dürfte die Nutzung von Computern im Fediverse aufgrund der etwas älteren, technikaffinen Zusammensetzung der Userbase deutlich verbreiteter sein – zumindest auf der Flaggschiff-Instanz mastodon.social ist das so. Und es wird wohl kaum jemand dagegen argumentieren können, dass mal eben zwei Sätze schreiben an einem Computer/Laptop deutlich einfacher ist, als an einem Handy. Das macht den Schritt, tatsächlich Bildbeschreibungen für die eigenen Posts zu schreiben, deutlich einfacher. Auch das ist nur Spekulation, aber zumindest ergibt es für mich Sinn, dass die Verkleinerung der technischen Hürde hier durchaus auch einen Unterschied macht. Einen Blogpost in dieser Länge würde ich an meinem Handy zumindest keinesfalls schreiben wollen.

Was bleibt?

Die Verbreitung von Bildbeschreibungen im Fediverse ist aufgrund der genannten Faktoren sicherlich gut zu erklären. Wünschenswert wäre es allerdings, wenn die Nutzung auch auf anderen Plattformen weiter verbreitet würde. Und da hilft nichts: Man muss die Leute dort auch mal etwas nerven. Denn eine Zusatzleistung zu erbringen, die nicht jedem hilft, ist eine Hürde, die den meisten schlichtweg zu viel ist – vor allem, wenn es keinerlei sozialen Druck gibt, sie zu nehmen. Wenn ihr also bis hierhin gelesen habt und noch keine Verfechter*innen der Bildbeschreibungen seid, dann probiert es doch vielleicht einfach mal aus, redet mit Leuten darüber, weist auch mal (freundlich!) darauf hin, wie gut es wäre, wenn gerade größere Accounts sie auch benutzen würden. Denn sie können vielen Menschen das Leben wirklich einfacher gestalten.


Anderswo im Fediverse als @dxciBel@fruef.social

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